25.06.2020

Kommentar: Klimaneutralität nur mit Vollgas!

Nationale Wasserstoff-Strategie

Gastkommentar

Worum geht's?

Klimaneutralität – möglich nur mit Solarer Wasserstoff-Wirtschaft!

In den 1970er und 80er Jahren wurde an der Universität Stuttgart, in Kooperation mit der DLR, an Technologien zur Transformation, einer auf fossilen Energieträgern basierten Energieversorgung hin zur technischen Nutzung der Sonnenenergie geforscht. Die Professoren C.-J. Winter und W. H. Bloss haben die Ideen der solaren Wasserstoff-Wirtschaft geboren. Ein Pilotprojekt zur Produktion von Grünem Wasserstoff (Hysolar) in Saudi-Arabien wurde realisiert und ein erster mit Wasserstoff angetriebener PKW (BMW, Prof. W. Peschka) entwickelt. Rund 40 Jahre später, in denen die Nutzung des „solaren“ Wasserstoffs einige Hochs und Tiefs durchlebt hat, stellt die Bundesregierung den Plan für „Die Nationale Wasserstoffstrategie“ (NWS) vor. Getrieben von den Klimaschutzzielen wird die Dekarbonisierung in den nächsten drei Dekaden über alle Energiesektoren mit klaren Treibhausgas-Reduktionen angestrebt. Zweifelsfrei notwendig sind dafür große Mengen „Grünen“ Wasserstoffs (H2), hergestellt durch Spaltung von Wasser in Elektrolysen, mit Strom aus Erneuerbaren Energien (Power-to-Gas). Als Zielgröße für den Bau von Wasserstoff-Anlagen sollen nach der NWS in Deutschland bis 2030 Kapazitäten mit einer Leistung von 5 GW entstehen. Unverzichtbar ist dazu der massive, parallele Ausbau von Wind- und Sonnenkraft.

Die Einstellung der Manager in der Energiewirtschaft und den Industriebranchen mit hohen Treibhausgas-Emissionen (Stahl, Zement, Chemie) scheint sich zu wandeln. Es gibt erste Absichtserklärungen sich an der Dekarbonisierung aktiv zu beteiligen. Andere betreiben „Greenwashing“, indem sie grünen Strom kaufen aber nicht selbst in Projekte und Technologien investieren.

Noch vor weniger als vier Jahren waren einige der großen Energie- und Industriekonzerne in Baden-Württemberg, nicht ansatzweise davon zu überzeugen, sich an der konkreten Entwicklung und Umsetzung eines Klimaquartiers in der Esslinger Weststadt zu beteiligen. 2016 begann die Planung für das erste klimaneutrale Stadtquartier mit 500 Wohneinheiten für bis zu 1.500 Bewohner. Mit der Installation von 1.500 kWp Photovoltaik, einem Elektrolyseur mit einer Leistung von 1 MW, der täglich bis zu 400 kg „Grünen“ Wasserstoff produziert, einem H2- und Biomethan- Blockheizkraftwerk, Stromspeichern, einer Wasserstoff-Abfüllstation, u.v.a. ist der Einstieg geschafft. Zur Realisierung und Finanzierung des Vorhabens wurde ohne Beteiligung großer, etablierter Energieversorger das Start-up „Green Hydrogen Esslingen“ gegründet. „Grüner Wasserstoff rechnet sich nicht, das machen wir ab 2040“, war die Begründung der Absage. Mit der Herausforderung, das Wasserstoff-Projekt in der Stadt umzusetzen, wurde planerisches Neuland betreten. Ziel war es, mit der Abwärme aus den Prozessen der Elektrolyse das Quartier zu versorgen und dadurch den Nutzungsgrad von rd. 60 % auf etwa 90 % zu steigern. Das Klimaquartier in Esslingen wird gemeinsam von BMWi und BMBF gefördert und dient heute als Blaupause für einige der kommenden Reallabore.

Deutschland strebt mit der NWS nach Aussage des Bundeswirtschaftsministers Altmaier an, Weltmarktführer in der Wasserstoff-Technologie (Elektrolysen, Brennstoffzellen, H2- Infrastruktur, H2- Abfüll- und Tankstationen) zu werden. Ein ambitioniertes Ziel für das es notwendig sein wird, das German Engineering zu nutzen sowie risikofreudige und innovative Unternehmen zu unterstützen. Bis 2030 sollen für die Marktentwicklung 7 Mrd. Euro für Projekte in Deutschland und 2 Mrd. Euro für Beteiligungen in sonnenreicheren Ländern wie Australien, Chile oder in Nordafrika zur Verfügung gestellt werden. Weiterhin ist beabsichtigt, die Forschungsbudgets für diesen Bereich um jährlich dreistellige Millionenbeträge aufzustocken. Wenn die EU in ihrer Wasserstoff-Strategie vorsieht, mehrere Milliarden Euro Steuergelder in „blauen“, erdgaserzeugten Wasserstoff zu investieren, wird deutlich, dass man nach wie vor am Transformationsprozess von fossilen zu erneuerbaren Energien zweifelt. An Ideen das entstandene CO2 als Eis in tiefsten Stellen des Meeres einzulagern wird seit 30 Jahren geforscht oder die aktuellen Vorschläge es in Salzkavernen einzubringen, schafft nur weitere ungelöste Baustellen.


Ist Klimaneutralität für Deutschland bis 2050 realistisch?

Unmissverständlich: Ja.

Aber der Ausbau der Erneuerbaren Energien muss uneingeschränkte Priorität haben und die Reduzierung des Energiebedarfs in allen Sektoren (Gebäude, Verkehr, Industrie) deutlich forciert werden.

Mit der Sanierung von Gebäuden die Klimaziele zu erreichen ist in der verbleibenden Zeit ebenso unrealistisch wie die Wirkung einer weiteren Verschärfung der Energieeinspar-Gesetze für den Neubaubereich bis 2050. Ausschlaggebend sind die CO2-Emissionen, die bei der Errichtung von Gebäuden freigesetzt und im Lebenszyklus nur schwierig bis gar nicht zu kompensieren sind.

Der Verkehrssektor braucht dringend „grünen“ Kraftstoff (Strom und Wasserstoff) und ein Umdenken in den Köpfen der Konzernchefs. Wer den Kunden heute E-Fahrzeuge mit über 2,5 Tonnen Leergewicht und SUV mit Hybrid-Antrieben anbietet, arbeitet gegen die Klimaschutzziele der Bundesregierung.

Wie aber das Ziel formulieren? „Nahezu klimaneutral“, also die Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2050 um ca. 80 %, wie es das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung von 2019 vorsieht, oder eine echte Null in der Treibhausgas-Bilanz mit einer 100%-tigen Vermeidung klimaschädlicher Emissionen, wie es die EU mit dem Green Deal anstrebt. Technisch wie wirtschaftlich ist das ein riesengroßer Unterschied. Meine Empfehlung für ein „nahezu klimaneutrales“ Wirtschaften liegt dazwischen und adressiert den Menschen als Bezugsgröße. Die jährlichen anthropogenen CO2-Emissionen sollten auf unter 1 Tonne CO2 je Einwohner reduziert werden. In 2019 waren es je Bundesbürger noch 8-mal soviel.

Wenn Klimaneutralität erreicht werden soll, muss der elektrische Strom zu fast 100% aus erneuerbaren Energiequellen bereitgestellt werden. Die benötige Kraftwerksleistung der Erneuerbaren mit aktuell ca. 108 GW, von denen 56 GW aus Wind- und 52 GW aus Sonnenkraft stammen, muss bis 2050 um das 5-fache wachsen. Windenergieanlagen (ca. 250 GW) werden dann etwa zwei Drittel des regenerativen Stroms erzeugen. Der Ausbau der Photovoltaik auf bis zu 200 GW wird mit rd. einem Viertel zur Dekarbonisierung des Stroms beitragen. Notwendig ist ein jährlicher Zubau von durchschnittlich 10 bis 14 GW für Wind und Photovoltaik. Verglichen mit der in 2019 installierten Leistung von lediglich 2,5 GW sind erhebliche Anstrengungen erforderlich, um den Ausbau zu forcieren.

In Deutschland ist der Ausbau der PV- und Wind-Kraftwerksleistung auf 450 bis 500 GW kein Flächenproblem. Für PV-Anlagen sind ausreichend Dach- und Freiflächen vorhanden. 200 GW Photovoltaik würden lediglich 2 % der landwirtschaftlich genutzten Areale bedecken. Im Gegensatz dazu wird der Ausbau von „onshore“ Windanlagen und der HGÜ-Strom-Trassen durch die fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft unter anderem aufgrund von Naturschutz, Lärmschutz oder dem Landschaftsbild extrem erschwert. Es ist Sache der Politik hier für eine bessere Aufklärung zu sorgen. Auch vor dem Hintergrund, dass Klimaneutralität nicht zum Nulltarif zu haben ist, sondern viele Milliarden erfordert, könnten Beteiligungsmodelle und Betreiberkonzepte auf regionaler Ebene dazu beitragen, die Akzeptanz zu erhöhen. Ungeachtet dessen muss sich das Verständnis durchsetzen, dass die Folgenschäden des Klimawandels größer und teurer sein werden, als zielorientierte Investitionen in eine nachhaltige Versorgung. Bis 2050 sind nach unseren Schätzungen für Deutschland 30 bis 40 Milliarden Euro jährlich erforderlich, um das Ziel „Nahezu Klimaneutral“ zu erreichen. Dies entspricht rd. 10 % des Bundeshaushaltes (2019) oder in etwa dem jährlichen Verteidigungsetat.

Die Nachfrage nach regenerativem Strom wird in absehbarer Zeit stark zunehmen. Der Anteil von Wärmepumpen an der Versorgung von Gebäude wird steigen, die E-Mobilität wird sich durchsetzen und die Industrie wird aufgrund der Kostensituation für die Verteuerung von Emissionen sowie ggf. aus Imagegründen auf grünen Strom umsteigen. All das macht zusätzlich den beschleunigten Ausbau der PV- und Windanlagen erforderlich. Und jetzt kommt noch der Strombedarf zur Produktion des „grünen“ Wasserstoffs dazu.


Welche Rolle spielt der Grüne Wasserstoff?

Nur mit „grünem“ Wasserstoff sind die Klimaschutzziele in Deutschland und der EU erreichbar. Die Herstellung kann nur über weitestgehend dekarbonisierten Strom erfolgen. Parallel mit dem Ausbau der Erneuerbaren und den damit einhergehenden hohen installierten (Spitzen-) Leistungen werden volatile Stromüberschüsse in den nächsten Jahrzehnten erheblich zunehmen. Die Umwandlung des Überangebots mittels Elektrolyse in „grünen“ Wasserstoff nach dem Prinzip Power-to-Gas wird somit zu einer Schlüsseltechnologie der Energiewende. Der Wasserstoff sollte meines Erachtens in der Nähe des Bedarfs produziert werden. Den Wasserstoff in den sonnenreichen ariden Gebieten herzustellen erfordert große Wassermengen, den Transport des Wasserstoffs und die geopolitische Abhängigkeit. Die Ideen den Solarstrom über ein HGÜ-Netz nach Europa zu transportieren und daraus Wasserstoff für die Industrie und Verkehr zu produzieren scheint mir sinnvoller. Die bei der Elektrolyse entstehende Abwärme – dies sind rd. 30 % des eingesetzten Stroms - könnten dann zur Wärmeversorgung in Europa genutzt werden. Die Effizienz steigt damit auf nahezu 90%.

Mit grünem Wasserstoff lassen sich nahezu sämtliche Sektoren (Industrie, Verkehr, Gebäude) dekarbonisieren. Wasserstoff lässt sich direkt oder als synthetisches Methan (Methanisierung) wandeln und in großen Mengen in Erdgasnetzen einspeisen. Gleichzeitig kann Wasserstoff mit seiner dreifach höheren Energiedichte (rd. 33 kWh/kg) im Vergleich zu Diesel, als Kraftstoff für Verkehrsmittel im Kontext von „weit und schwer“ eingesetzt werden. Wasserstoffmoleküle lassen sich verlustfrei speichern, im Gegensatz zu Elektronen in einer Batterie. Ein Grund mehr, grünen Wasserstoff für die Mittel- und Langzeitspeicherung zu nutzen und damit z.B. die befürchteten „Dunkelflauten“ zu überbrücken.

Die Kosten des grünen Wasserstoffs hängen in erster Linie von den Stromgestehungskosten, den Betriebszeiten des Elektrolyseurs und von den Investitionskosten der Elektrolyseanlagen ab. Grüner Wasserstoff wird in den nächsten Jahren für 2 bis 3 €/kg produzierbar sein. Die Anlagenkosten zur Produktion von Wasserstoff werden durch eine industrielle Fertigung im GW-Bereich um mindestens ca. zwei Drittel auf spezifische Investitionen unter 500 €/kW sinken. Der (wirtschaftliche) Durchbruch der NWS könnte darüber hinaus entscheidend forciert werden, wenn Strom aus erneuerbaren Energien von den hohen Umlagen aus dem EEG und den Netzentgelten befreit würde.


Quo Vadis – Energiewende?

Änderungen in der Energietechnik durchzusetzen braucht Zeit, beim solaren Wasserstoff sogar fast ein halbes Jahrhundert. Dass die Bundesregierung trotz der zögerlichen Haltung der Konzerne auf grünen Wasserstoff setzt, ist lobenswert und das Ziel, an die Spitze der Champions-League in dem Bereich aufzusteigen, ambitioniert. Dort spielen Japan, Korea und China schon länger um den Titel „Markführer“. Hätte man die Visionäre vor 40 Jahren in Stuttgart ernst genommen, müsste man heute nicht bei Brennstoff-Zellen und BEV-Fahrzeugen hinterherlaufen. Ob die Aufholjagd mit den Milliarden gelingt, wird sich zeigen. Wir brauchen in Deutschland Unternehmen, die kurzfristig in der Lage sind, Produktionsanlagen für Elektrolysen und Brennstoffzellen im einstelligen GW-Bereich pro Jahr zu errichten, um damit den heimischen und europäischen Markt zu beliefern.

Wir brauchen außerdem dringend eine europäische Photovoltaik- und Windindustrie. In der Forschung sind deutsche Institute bereits an der Spitze und melden laufend neue Weltrekorde beim Wirkungsgrad von PV-Zellen. Der massive Bedarf an erneuerbaren Energien allein in Deutschland zeigt das große Potential. Hochgerechnet auf Europa wird deutlich, dass die Wertschöpfung hier und nicht in Asien stattfinden sollte. Durch hohe Produktivität und Leistungsfähigkeit sollte es gelingen, PV-Module günstiger vor Ort zu produzieren, als sie über den langen und teuren Transportweg aus Asien zu importieren.

Als Protagonist zur technischen Nutzung der Solarenergie wird mir seit 40 Jahren die Frage gestellt „rechnet es sich“? Es bleibt zu hoffen, dass die Verweigerungshaltung in den Chefetagen der Energiewirtschaft und Industrie in den zurückliegenden Dekaden nun umschlägt und man sich zu ambitionierten und engagierten Machern der Energiewende entwickelt. Die Chancen sind da.

Der Autor ist Maschinebau-Ingenieur, hat 22 Jahre das Institut für Gebäude- und Solartechnik an der TU Braunschweig geleitet, ist CEO der EGS-plan Ingenieurgesellschaft Stuttgart und Mitgründer der Green Hydrogen Esslingen.

Mehr über uns

Wohin als nächstes?